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Schätze aus der Chronikgruppe: Der Erbpächter Hof Thüner Oberbauerschaft Nr. 88 – Teil 1

Da sich in unserer Sammlung einige Dokumente aus dem Nachlass von Gerhard Thüner (1929-2019) zum Hof Oberbauerschaft Nr. 88 (heute Kahle-Wart-Straße 29) und seiner Bewohner, der Erbpächterfamilie Heimsath später Thüner, befinden, möchten wir heute mal über die Geschichte dieser Stätte berichten. Dazu gibt es eine Serie mit zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um die frühe Hofgeschichte und die Hebamme Katharine Thüner. Der zweite Teil erzählt von der weiteren Entwicklung der Stätte und dem Tischlermeister Heinrich Thüner.

Die Stätte befand sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts am Fuße der Kahle-Wart. Zuerst war sie eine Erbpächterstätte. Das bedeutet der Erbpächter pachtet Land von einem Colon (Landwirt) und baute auf diesem Land ein Wohnhaus. In diesem Fall war der Meyer zu Beendorf von Oberbauerschaft Nr. 7 (heute oberer Kastanienweg) der Verpächter. Mitte des 19. Jahrhunderts gingen die meisten Erbpächterstellen in den Besitz der Pächter über. So auch bei dieser Familie.

Auszug aus einer Postkarte von 1908. Oben links das Wohnhaus Thüner von um 1810 in der Mitte die Tischlerwerkstatt und rechts das Gehöft Grönemeier.

Den Unterlagen ist zu entnehmen, dass die Tochter des Erbpächters Rudolf Henrich Heimsath (früherer Schreibweise Hemesath) den Witwer Wilhelm Thüner, geboren auf Oberbauerschaft Nr. 78 (heute Niedringhausener Str. 184), am 26. Juli 1844 ehelicht. Vier Monate zuvor war es in Lübbecke zu einer Verhandlung gekommen. Am 27. März waren folgende Personen erschienen:

  • Der Erbpächter Hermann Heinrich Gottlieb Niermann Nr. 88 zu Oberbauerschaft, zu Dünne wohnhaft
  • Dessen Ehefrau Margarethe Christine Niermann, geborene Rührup, auf Oberbauerschaft Nr. 88 wohnhaft
  • Die großjährige, unverheiratete Clare Marie Ilsabein Hemesath, Tochter der Ehefrau Niermann aus deren erster Ehe, auf Nr. 88 zu Oberbauerschaft
  • Der Colon Albert Heinrich Meyer Nr. 7 zu Oberbauerschaft
Auszug aus dem Verhandlungsprotokoll vom 27. März 1844

Die Eheleute Niermann, welche getrennt lebten, übertragen die Erbpächterei/Neubauerei an die Tochter Clare Marie Ilsabein Heimsath. Sie verpflichtet sich ihre Mutter zu Hause zu behalten und bis in den Tod zu versorgen. Dazu gehört auch eine angemessene Beerdigung. Ihren in Dünne lebenden Stiefvater zahlt sie mit 30 Thalern aus. Der Verpächter Meyer Nr. 7 genehmigt die Verhandlung. Noch war die Stätte anscheinend nicht eigenständig. Der „Erbpachtscanon“ betrug jährlich 5 Thaler.

Ob Wilhelm Thüner zu diesem Zeitpunkt schon eine Rolle spielte kann nicht mehr ermittelt werden.

Durch die Heirat mit der Erbin wurde er der Erbpächter auf der Stätte Nr. 88. Das vorhandene Haus wurde um 1810 von den Vorfahren von Clare Marie Ilsabein errichtet. Ihr Vater Rudolf Henrich war in zweiter Ehe mit Ilsabein Rührup seit 1806 verheiratet. Beide stammten aus Oberbauerschaft. Der Vater starb 1816. 1817 heiratete die Witwe den aus Klosterbauerschaft stammenden Hermann Heinrich Gottlieb Niermann. Er wird mit der Heirat Erbpächter auf der Stätte Nr. 88.

Friedrich Thüner, jüngster Sohn der Erbin, kommt 1849 auf Nr. 88 zur Welt. Er heiratet 1871 Katharine Bartelheim aus Börninghausen. Sie bekommen sechs Töchter und drei Söhne, wovon zwei im Kindesalter sterben.

Katharine und Mann Friedrich

Katharine ist als Hebamme in Oberbauerschaft tätig. In einem Text wird sie wie folgt beschrieben:

Katharine Thüner geborene Bartelheim, die Großmutter aus Börninghausen, stellt in der Sippe eine unangefochtene Autorität da. Sie gilt landauf landab nicht nur als tüchtige und warmherzige Geburtshelferin und Amme, sondern ist in dem Häuschen unterhalb der Kahlen Wart der Herr im Hause. […] Bei aller Couragiertheit ist Katharina Thüner eigentlich ein extrem feinfühliger und tiefsinniger Mensch. Sie hat angeblich, dass damals in Westfalen hier und da vorkommende „zweite Gesicht“ (Deuteroskopie), also Visionen im Wachzustand, die zuverlässig eintreffen. Diese Bilder suchen sie vor allem auf weiten nächtlichen Fußwegen zu Niederkünften heim. […] Als in diesen Jahren einmal im Eierfeld (südlicher Hang der Kahlen Wart) nachts wiederholt eine merkwürdige Lichtgestalt beobachtet wird, machen sich aufgeschreckte Anwohner bewaffnet auf die Jagd nach dem vermeintlichen Gespenst. Ihr Irrtum klärt sich im letzten Augenblick auf: Es ist Katharine, die auf ihren weiten Fußmärschen zu den Geburten zu stricken pflegt und dabei die am Arm befestigte Sturmlaterne so seltsam bewegt, dass sie auf der Ferne wie ein Geist wirkt.

Und noch eine charakterisierende Anekdote: In der Oberbauerschafter Kirche wird eine Kollekte für ein allgemeinen sozialen Zweck erbeten, worauf Katharina couragiert das Wort ergreift und darauf hinweist, dass sie genug Elend in der eigenen Gemeinde vor Augen habe. Darauf geht sie durch die Reihen und sammelt in eigener Regie und ungehindert für die Bedürftigen Geld ein.“

Briefkopf Schreiben vom 27. Juli 1882

1882 erhielt sie ein Schreiben von dem Amtmann Neumann aus Hüllhorst.

„Neuerdings ist zu Sprache gekommen, daß die Hebammen über die ihren zustehenden Gebühren nicht informiert sind. Dieserfall teile ich Ihnen umstehend den Tarif mit, wie es im Amtsblatt von 1871 von der königlichen Regierung festgesetzt ist. Die niedrigsten Sätze sind für Heuerlinge mit geringen Vermögen. Die höheren für den wohlhabenden Bauern und für den Mittelstand sind entsprechende Mittelsätze zu berechnen. Für ortsarme Personen hat die Gemeindekasse eine Gesamtentschädigung von 3 Mark zu zahlen.“

Und so erfahren wir in den 21 aufgezählten Punkten, dass für „eine leichte und natürliche Entbindung“ 3 bzw. 6 Mark gezahlt werden müssen. Eine „Zwillingsentbindung“ kostet 4 bzw. 8 Mark.

Auszug aus den Tarifen die eine Hebamme für ihre Dienste in Anspruch nehmen kann

Auch kann sie Wegegeld beanspruchen und für Tag- und Nachtwachen eine Entschädigung verlangen. Ende 1912 geht sie nach über 30 Jahren als Oberbauerschafter Hebamme in Rente und übergibt an die Hebamme Anna Alhorn. In den 1880 Jahren wurden in Oberbauerschaft 449 Kinder auf die Welt gebracht. In den 1890er Jahren waren es 442. Sie wird bei den meisten Geburten zugegen gewesen sein. 1916 stirbt ihr Ehemann Friedrich. Vier Jahre später folgt ihm auch Katharine im Alter von 69 Jahren.

Im zweiten Teil geht es um die weitere Hofgeschichte.

Eure Chronikgruppe: Christine Honermeyer und Dirk Oermann

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